Jahresübergänge sind immer eine spannende Zeit. Etwas endet, etwas beginnt. Natürlich tut es dies immer – in jedem erdenklichen Augenblick, doch da wir den Pathos lieben, greifen wir nun also einen einzelnen Moment aus der unendlichen Fülle der aufeinanderfolgenden Übergänge heraus, den jemand (oder wir alle) als wichtig einstuft, und haben nun einen Grund zu feiern.
Prosit Neujahr.
Prosit neues Etwas, was jemand in Monate, Tage, Wochen und alle anderen Einheiten unterteilt hat. Und diese Zählzeiten sind mitnichten in Stein gemeißelt. Sie wurden festgelegt und wir alle begreifen sie als unsere Normalität. So normal, dass wir deren Abläufe noch nicht einmal mehr wahrnehmen, geschweige denn in Frage stellen. Denn Jahresübergänge finden auch heute noch in vielen Kulturen zu verschiedenen Zählzeiten statt.
Der menschliche Verstand scheint es zu lieben, alles was er wahrnimmt zu beziffern, zu nummerieren, einzureihen, aufzurechnen, zu datieren, zu betiteln, oder festzuschreiben. Wir finden sicher viele Gründe, warum dies sinnhaft oder wichtig ist – doch alles in allem bewegen wir uns damit nur in einem recht kleinen, überschaubar–willkürlichen System, welches wir uns selbst zurecht bastelten, um uns einen Rahmen zu geben, an den wir uns nun klammern können.
Vielleicht … um sich in diesem scheinbar chaotischen Universum und den sich ständig wandelnden Lebenszyklen wenigstens eine kleine, imaginäre Sicherheit einzurichten?
Wie sonst sollten wir uns denn einigermaßen sicher fühlen zwischen unzähligen bewohnten und unbewohnten Sternen, die irgendwann mal aus einem kleinen Pünktchen Energie entstanden (wenn ich der Wissenschaft glauben kann)? Ich meine … dass wir im Jahre des Herrn 2023 zuhause sind, ist den meisten Menschen in der westlichen Hemisphäre klar, doch wann begann eigentlich jemand damit, die Jahre zu zählen? Und warum?
Zweitausendunddreiundzwanzig Jahre die wir nun sortierten, im Vergleich zu den (ich muss kurz googlen und glaube einfach blind, was ich lese, ohne dass ich es nur annähernd rational begreifen kann) 13,8 Milliarden Jahren, die das Universum auf dem Buckel haben soll. Wieviele Zivilisationen da wohl schon entstanden und wieder vergangen sein mögen?
In einer größeren Menschenmenge könnte ich noch nicht mal einschätzen, ob da nun 500 oder 1000 Menschen versammelt sind. Wie absolut unbegreiflich diese zeitliche Größenordnungen, vor allem im Hinblick darauf, dass die Menschheit nur knapp 100.000 Jahre alt sein soll. Eine verschwindend geringe Zeit, die wir als wandelndes Bewusstsein genau HIER verbringen durften – und erstaunlich wenig davon wurde nummeriert.
Den Jahreszeiten selber ist es wohl egal, ob wir sie zählen, betiteln, oder auch nicht – sie laufen von alleine ab. Die Natur wächst und gedeiht. Evolution findet und fand schon immer statt, auch ohne unser Urteil. Doch für uns Ordnungsliebende muss alles fein säuberlich in einer Schublade eingereiht sein – denn wer wären wir ohne zu wissen, in welchem Jahr wir lebten? Wäre das nicht schrecklich? Nicht zu wissen, wo man sich auf diesem Zeitstrahl befindet? Wo genau, zwischen Urknall und Ende des Universums?
Nicht, dass Zeit wirklich linear – so wie die meisten in der Schule fälschlicherweise gelernt haben – abläuft; das haben auch schon die meisten Wissenschaftler verinnerlicht. Sie wirkt nur linear durch unsere Wahrnehmung, welche an unseren Körper gebunden ist. Jeder Mensch, jedes Tier, jedes Bewusstsein nimmt Zeit anders wahr. Sogar innerhalb des eigenen Systems der Wahnehmung variiert dies unglaublich stark. Zeit ist keine Konstante, auch wenn wir dies gern so zählen wollen. Zeit verändert ihre Erscheinungsform, je nachdem, wie stark wir uns auf sie fokussieren.
Doch in Wahrheit gibt es sie gar nicht, wie weltbekannte Wissenschaftler wie Stephen Hawking, Albert Einstein oder auch die meisten Spirituellen und erfahrenen Mystiker erklären (auch wenn du es nicht glaubst hilft wieder Dr. Google – doch selbst das wird nicht zum Wissen verhelfen, wenn es nicht selbst erlebt wird)
Dass unser gezähltes Zeitkonstrukt nur eine fantastische Illusion darstellt, kann selbst mein Verstand nur in Momenten der vollkommenen Losgelöstheit Seinerselbst begreifen. Oder besser gesagt: Wenn er sich in Luft auflöst, kein Sortiersystem mehr existiert, kein Oben und Unten mehr unterteilt wird und nur noch Stille bleibt, die alles ist.
Ja. Ich rede von erweiterten Bewusstseinszuständen, die wir nicht erklären können, die jedoch wegweisend für unsere Verständnisfähigkeit des Lebens und unsere Wahrnehmung sind. Im Kern sind solche Schlüsselmomente entscheidend für unsere Lebensfreude und die Frage, ob wir uns hier in diesem Universum auch wirklich sicher und wohl fühlen können.
In Nahtoderlebnissen, Extremsituationen wie Unfällen, Momenten äußerster Dehnung des Bewusstseins, im Yoga, beim Tanz, oder Sex, durch Atemtechniken und der Ausschüttung verschiedenster Neurotransmitter – oder auch vollkommen „zufällig“, also ungeplant – können wir „aus der Zeit fallen“ und dabei äußerst interessante, verwirrende, oder auch reinigende Zustände erfahren. Wenn wir uns selbst von außen beobachten, nicht mehr anwesend sein, uns auflösen und doch etwas etwas wahrnimmt.
Momente der Zeitlosigkeit, der Einsicht, des Verstehens, welche niemals erklärbar, jedoch erlebbar sein können, welche sich uns tief einbrennen. Moment, welche außerhalb der Ordnung unserer Logik liegen und nur außerhalb der Vernunft erfahren werden können. Denn da ist immer mehr, als wir uns versuchen zu erklären. Dort bleibt vom Wunsch, zu wissen welches Jahr zur Zeit gezählt wird, nur noch ein sanftes Lächeln zurück, welches sich in ein freudiges Wölkchen Glücksseligkeit verwandelt, nur um sich dann anderen, spannenderen Dingen zuzuwenden, die es noch zu fühlen gibt.
Doch wir brauchen keine Psychodelika oder Erleuchtungsmomente, um unser kleines, (v)erklärtes Ich an die Grenze des Verständnisses zu bringen, und um einen Blick hinter die Kulissen zu erhaschen.
Wir können uns Fragen stellen.
Scheinbar einfache Fragen, welche aber immense Wirkungen entfalten können. So immens, dass Menschen für ihr Infragestellen schon hingerichtet wurden. Nicht nur einmal.
Ich hörte einst: wird unser logischer Verstand richtig angewendet führt dies unweigerlich dazu, dass er an den vielen unerklärlichen Paradoxien des Lebens verzweifelt, sich selbst in Frage stellt und lieber trotzig in der Ecke verschwindet. Denn eigentlich ist nie irgendetwas klar, außer wir behaupten, wir kennen alle Fakten. Doch das ist faktisch unmöglich und ein lustiges kleines Spiel unseres Egos. Wir alle glauben Dinge, die wir irgendwo aufschnappten (unsere derzeitige Jahreszahl zum Beispiel) und glauben nun, uns ein Urteil bilden zu können. Irgendwie süß.
Zurück zum Jahresübergang und den Fragen:
Wie wurde die Zeit vor Christi Geburt gerechnet? Wann hat jemand angefangen die Zeit zu zählen? Was wurde aus der Zeitrechnung die vor Jesus existierte? Die Menschen in der Antike sagten über sich sicherlich nicht, dass sie im Jahre 642 vor Christus lebten. Den Römern war Jesus gar ein Dorn im Auge, so dass sie ihren unliebsamen und damals recht unbekannten Störenfried eliminieren mussten.
Ob in exakt diesem Moment jemand sagte: dies wird nun das Jahr Null genannt und das auf einmal offiziell von so ziemlich allen Völkern anerkannt wurde? Wie funktioniert unser kollektives Bewusstsein, dass wir alle annehmen, es sei so wie es ist und dann fleißig dazu nicken, wo doch wohl früher jeder Stamm oder jede Kultur eine eigene Zahl für sich in Anspruch nahm.
Vielleicht wurde im Jahr 190284 von irgendeinem Mann (höchstwahrscheinlich ein Mann der katholischen Kirche) entschieden, dass nun alle im Jahre 312 nach Christi leben dürfen? Ob die damals Weihnachten auch wirklich punktgenau zurückdatieren konnten?
Wir leben in einem Mysterium, welches wir beständig zu ordnen versuchen. Klingt irgendwie ganz schön anstrengend … da ist es auch mal gut, einen Grund zum Feiern zu haben 😉
Und das beste daran: Wenn es eigentlich keine Zeit gibt, muss ich mir auch nieeee wieder Stress machen, kann nichts mehr verpassen und wann hier irgendwas geschafft wird hat gar keinen tieferen Wert. Außer wir machen aus kleinen Momentmücken halt gefährliche Elefanten.
Liebe Grüße und ein erfolgreiches (was auch immer dein Maßstab darin sei) Jahre mit einer willkürlichen Zahl.
Martin