Jahrelang habe ich mich im Kontakt mit Männern unwohl gefühlt. Aufgewachsen in einem Umfeld der Konkurrenz, des Kampfes und des Gegeneinanders, hatte ich schon früh gelernt, dass ich mich schützen muss. Meine Artgenossen waren keine wirklichen Freunde. Und selbst die Freunde die ich hatte, beleidigten sich mehr, als dass sie sich wertschätzend äußerten. Wir versuchten, einander zu übertrumpfen und förmlich in jedem Gespräch zu beweisen, wie überlegen wir sind. ”Ich besitze Dies. Ich besitze Das. Ja, aber ICH besitze das…”
Und selbst heute lausche ich noch vielen Gesprächen, in denen es darum geht: “Ich habe das gelesen… Ich habe dies gelesen …Ich weiß das … Ich weiß Dies … ICH weiß es BESSER und damit muss deine Überzeugung falsch sein …”
Selbst in der Reiseszene saß ich an vielen Lagerfeuern, wo – meist Männer – sich mit den abenteuerlichsten Geschichten und Fahrzeugdebatten zu übertrumpfen versuchten, sich kaum ausreden ließen, ohne zu lauschen, nur eine Gesprächslücke abwartend, um ihren wichtigen Senf direkt über den Senf des anderen zu klatschen. Ohne Atempause. Wir redeten über vieles. Meist über Andere und Anderes. Aber wie wir uns dabei wirklich fühlten, verschwiegen wir.
Wir unterhielten uns.
Wir hielten uns gegenseitig unten.
Und das taten wir alle. Auch ich lernte von klein auf mitzuspielen, in mir formte sich eine Persönlichkeit (Persona = lat. Maske) und baute Schutzwälle auf, um die andauernden Verletzungen nicht spüren zu müssen. Getreu nach dem Spruch der Ältesten „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, versuchte ich stark zu sein, um meine Verletzlichkeit zu verstecken. Leider war ich verbal nicht ganz so schlagkräftig und die besten Sprüche zur Verteidigung fielen mir erst auf dem Heimweg ein, womit ich dann tausende Stunden meines Lebens verbrachte: In meinem Kopf zu diskutieren, zu argumentieren, zurückzuschlagen. Denn genau das will mein Ego: sich beweisen. Sich gesehen fühlen. Recht behalten. Gewinnen. Sich erklären. Es möchte die Kontrolle behalten, um nicht unterzugehen.
Daraus festigte sich ein ganzes Lebenskonzept. Ich wollte alles anders machen. Ich schraubte an einzigartigen Autos. Dies war meine Möglichkeit, meine Besonderheit im Umfeld unter Beweis zu stellen und in die Sichtbarkeit zu kommen. Ich baute schnelle Autos, die es so noch nicht gab, kaufte nichts von der Stange, wollte alles selbst und neu erfinden. Nahm fast immer den schwierigeren Weg. Tausende und abertausende Stunden verbrachte ich mit öligen Fingern in der Werkstatt, um mich abzuheben, einem kurzen Adrenalinrausch folgend. Da fand ich meine Lebendigkeit – oder besser: das hohe Erregungslevel meines Nervensystems verband ich mit Lebendigkeit.
Auf der Rennstrecke oder in der sandigen Düne. Höher, schneller, weiter.
Wie viel leichter hätte mein Leben sein können, wäre ich nicht mit dem extremen Drang aufgewachsen, mich beweisen zu müssen?
In der Schule war ich das beliebte Opfertier. Unser Denk- und Schulsystem ist geradezu prädestiniert dazu, Konkurrenz und Dominanzverhalten zu fördern. Der Stärkere, Lautere, Imposanteste scheint auch heute noch zu gewinnen. Natürlich gewinnt er nur eine oberflächliche Stärke, durch Unterdrückung anderer, auf Kosten wahrer Begegnung; doch vorerst festigte sich im Klassen- und Freundesverband damit die hierarchische Sozialstruktur. Eine destruktive Sozialstruktur, die bis in die politischen Gebilde internationaler Kommunikation wirkt. Wir hatten es nicht anders gelernt. Jeder tat sein Bestes, um nicht unterzugehen. Heute frage ich mich, wie es besser geht und lerne, meine Wunde zu betrachten.
Ich erinnere mich noch an eine Situation im Alter von 13 Jahren, als ich körperlich angegriffen wurde und die grundlose Wut eines pubertierenden Mitschülers abbekam. Er nahm mich in den Schwitzkasten und drückte mein Gesicht gegen den gerippten Heizkörper. Das tat weh.
Ich verließ umgehend das Gebäude und ging weinend nach Hause und wusste: da gehe ich nie wieder hin. Dieser Apparat verletzt meine Grenzen und wird mir aufgezwungen. Wäre die Schule etwas wirklich Schönes, ein Ort des Miteinanders, würden wir frohen Mutes, freiwillig und gern dahin gehen. Das Wort Schulpflicht wäre unbekannt.
Mein Vater empfing mich mit warmen Worten, Umarmung und Mitgefühl, wofür ich heute noch dankbar bin. Danach fuhr er mit mir zur Schule zurück, um den Direktor zu sprechen. Doch wie sollte der die Situation wirklich klären? Der sogenannte Übeltäter musste sich bei mir entschuldigen. Er reichte mir missmutig die Hand, entschuldigte sich für den Direktor und meinen Vater, schaute mich dabei nicht an. Die Geste brachte: Nichts.
Nicht ihm und nicht mir.
Reine Rhetorik, damit sich die Ältesten wieder besser fühlen konnten. Sie hatten ihre Pflicht getan, der normale Betrieb konnte weitergehen, die Schuld war verteilt, doch dass auch der Täter ein Opfer war, fiel niemandem auf.
Ich lebte weiterhin in Angst und musste die Schule noch viele Jahre lang besuchen. Auf einer Ebene lernte ich: Machtlosigkeit. Gegen die Großen hatte ich keine Chance. Wer wird in jungen Jahren mit seinen Gefühlen der Hilflosigkeit schon ernst genommen? Innerlich wuchs der Rebell in mir. Wer sich machtlos fühlt, lernt zwei Optionen: Zurückschlagen, oder untergehen. Viele Opfer werden später selbst zu Tätern. Der Druck wird weitergegeben an den nächst Schwächeren. So oft hörte ich, dass wir da alle durch müssten, dass die Welt so sei und dass man sich halt durchboxen müsste. Nur so würde man lernen, in der erbarmungslosen Gesellschaft zurechtzukommen. Die erlernte Hilflosigkeit zieht sich bis heute durch alle Bereiche des Lebens und führt zu einem gewaltigen Kompensationsmechanismus, um den darunter liegenden Schmerz nicht fühlen zu müssen. Wird der Schmerz zu groß und lässt sich nicht mehr verstecken, gedeihen Depression und Sucht auf diesem ungesunden Nährboden.
Konsum & Wirtschaftswachstum leben von der Ohnmacht der Bevölkerung.
Kriege und Klimawandel sind Symptome unseres Egokampfes gegen das Gefühl, unterzugehen. Nicht die Ursache.
Wie viele von uns leben in ständiger Angst vor diesem scheinbar übermächtigen System, in Angst vor dem Nachbarn, dem Fremden, vor steigenden Preisen, vor Verlust? Vor Papa Staat und dessen willkürlichen Erlassungen? Besessen von dem Gefühl, man könne nichts dagegen tun? So nachhaltig von Geburt an kultiviert, dass diese Angst im körpereigenen Nervensystems als normaler Dauerzustand abgespeichert ist. Dauerhaft in Gefahr. Eine Krise jagt die Nächste. Ständig zu Flucht oder Angriff bereit. Immer überlastet.
Geboren, um Opfer zu sein.
Wie fühlt sich das an?
Wie gestaltet sich mit diesem Erbe unsere Realität?
Auf einer anderen Ebene wusste ich immer:
Das bin nicht Ich. Es muss auch anders gehen.
So will ich nicht spielen.
Ich habe keine Lust mehr, meine Lebenszeit mit Abwehrmechanismen zu verschwenden. Muss ich wirklich Recht haben? Muss ich mich beweisen? Muss ich wirklich kämpfen? Oder sind das nur erlernte Überlebensstrategien? Wie würde sich ein Nervensystem anfühlen, welches nicht erst Alkohol, ferne Urlaubsziele, oder andere Substanzen braucht, um tief zu entspannen? Wie sieht ein Leben ohne Krankheit aus?
Über die Jahre lernte ich, nicht nur mit dem Leid und der Trennung umzugehen, sondern daran zu wachsen, eine Chance in meinen Verletzungen zu finden. Sehr viel unseres gesellschaftlichen Kampfes hat mit Berührbarkeit und gespeicherten Traumata zu tun. Seelig, aber auch körperlich.
Eine schnelle Umarmung zum Hallo und zum Abschied mit fast schmerzhaftem Klopfen auf den Rücken waren die wärmsten Berührungen unter Brüdern. Man wollte ja nicht schwul wirken. Selbst meinem Vater begegnete ich über viele Jahre nur so. Nun, in der Mitte meines vierten Lebensjahrzehnts kann ich es langsam genießen, eine Umarmung zwischen Männern auf mehr als 5 Sekunden auszudehnen, mich fallen zu lassen. Ich habe nie gelernt, mich in der Gegenwart – oder besser – in der Begegnung mit einem Mann zu entspannen, gehalten zu werden. Das entdecke ich erst jetzt. Mein System war immer in Alarmbereitschaft. Tief abgespeichert in jeder Zelle. Stets zur Verteidigung bereit, um den nahenden Angriff abzuwehren. Denn irgendwann passierte es immer … ein kurzer Witz auf Kosten des Gegenübers. Eine kleine Geste der Dominanz, der Überlegenheit. Hier und da eine Beleidigung oder Provokation, versteckt in einem scheinbar freundlichen Lachen. Und das scheint normal, selbst in freundschaftlicher Begegnung.
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Liebe Grüße Martin
PS: Wenn euch meine Arbeit gefällt, dann freue ich mich über deinen Energieausgleich, damit ich weiter lernen, erfahren und teilen kann. https://herrlehmanns-weltreise.de/auf-spendenbasis/